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PAPER SESSIONS
Nationales Forschungsprogramm NFP 76 - Fürsorge und Zwang

Spannungsfelder und Ungewissheiten im Kindesschutz. Aktuelle empirische Studien zum System des Kindesschutzes in der Schweiz (session 2 of 2)

From
June 29, 2021 15:00
to
June 29, 2021 16:30
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Organizers

Aline Schoch¹; Martina Koch¹; Gaëlle Aeby²; Lukas Neuhaus¹, Marion Pomey³; Cornelia Rüegger¹

¹Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW; ²Universität Genf; ³Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW

Speakers

Cornelia Rüegger, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Marion Pomey, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft ZHAW, Soziale Arbeit

Aline Schoch, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW; Gaëlle Aeby, Universität Genf

Dem Kindesschutz sind verschiedene «Ambivalenzen» (Kelle/Dahme 2020) inhärent, beispielsweise das Spannungsfeld zwischen (fremdbestimmtem) Schutz und Selbstbestimmung (Becker-Lenz et al. 2019), zwischen Kindeswohl und Kindeswille (Oelkers/Schroedter 2008), zwischen Partizipation und behördlicher Verfahrenslogik (Schoch et al. 2020), zwischen einer Logik der Vereinbarung und einer Logik der Anordnung (Koch et al. 2019) oder zwischen einer Eltern- und einer Kinderzentrierung (Pomey 2017). Dies führt zu Ungewissheiten und zu Unsicherheiten nicht nur bei den betroffenen Personen und Familien, sondern auch bei den Fachkräften, die im Kindesschutz tätig sind. Wie werden solche Spannungsfelder in der Praxis ausbalanciert und ausgehandelt?

Zurückzuführen sind diese Ungewissheiten und Spannungsfelder unter anderem darauf, dass sowohl der Kindesschutz durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe geprägt ist, beispielsweise durch Begrifflichkeiten wie Gefährdung, Kindeswohl oder Schutzbedürftigkeit. Aus rechtssoziologischer Sicht bedürfen diese unbestimmten Rechtsbegriffe erst einer Überführung in die Rechtswirklichkeit, was Auslegung, Anwendung und Aushandlung beinhaltet. Auch in dieser Hinsicht ist der Alltag der Fachkräfte von Unsicherheiten und Ungewissheiten sowie einem erheblichen Ermessensspielraum geprägt. Des Weiteren zeigt sich, dass dies für die betroffenen Personen problematische Implikationen haben kann: Oft ist für sie nicht ganz nachvollziehbar, inwiefern die Fachkräfte bei ihnen eine Gefährdungssituation konstatieren. Insofern sind die ungewissen Rechtsbegriffe auch umkämpfte Wirklichkeiten; es zeigen sich Kämpfe um Deutungen beispielsweise hinsichtlich dessen, was eine ‘gute Kindheit’ oder ein ‘gutes Leben’ ausmacht. Zu fragen sein wird daher, welche Deutungen sich wann durchsetzen und inwiefern auch die betroffenen Personen zu Deutungshoheit gelangen können. 

Die Anzahl empirischer Studien zu den Auswirkungen der Gesetzesreform des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes 2013 sowie zur Arbeit der damals neu geschaffenen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) und weiterer organisationaler Akteure in diesem Feld sind überschaubar. In dieser paper session möchten wir aus soziologischer Perspektive anhand aktueller empirischer Studien den Ungewissheiten nachgehen, die sich durch Spannungsfelder und unbestimmte Rechtsbegriffe im Kindesschutz zeigen. 

Becker-Lenz, R.; Käch, O.; Müller-Hermann, S. & L. Neuhaus (2019): Selbstbestimmung, Schutz, Wohl. Zielorientierungen im Erwachsenenschutz. Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit, No 24, pp. 58-71.

Kelle H. & S. Dahmen (eds) (2020): Ambivalenzen des Kinderschutzes. Empirische und theoretische Perspektiven. Kindheiten. Weinheim: Beltz Juventa. 

Koch, M., Piñeiro, E., & N. Pasche (2019): "Wir sind ein Dienst, keine Behörde." Multiple institutionelle Logiken ineinem Schweizer Jugendamt - ein ethnografisches Fallbeispiel aus der street-level bureaucracy. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(2), pp. 1-30.

Oelkers, N. & M. Schrödter (2008): Kindeswohl und Kindeswille. Zum Wohlergehen von Kindern aus der Perspektive des Capability Approach. In Otto, Hans-Uwe & Holger Ziegler (eds) Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, pp 143-161.

Pomey, M. (2017): Vulnerabilität und Fremdunterbringung. Eine Studie zur Entscheidungspraxis bei Kindeswohlgefährdung. Weinheim: Beltz Juventa.

Schoch, A.; Aeby, G.; Müller, B.; Cottier, M.; Seglias, L.; Biesel, K.; Sauthier, G. & S. Schnurr (2020): Participation of Children and Parents in the Swiss Child Protection System in the Past and Present: An Interdisciplinary Perspective. Social Sciences, vol. 9(8), pp. 1-19.


Wer hat hier welches Problem? Zur interaktiven Produktion des Falles im Kindesschutz und der kommunikativen Bearbeitung des Spannungsfeldes zwischen Defizitkonstruktion und Stigmavermeidung

Cornelia Rüegger, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben es im Arbeitsfeld des Kindesschutzes beim Auftreten von Erziehungsproblemen der Eltern, Entwicklungsproblemen von Kindern und Jugendlichen oder bei Abklärungen von möglichen Kindeswohlgefährdungen mit konkreten realen Fällen zu tun. Durch die sozialstaatliche Anbindung Sozialer Arbeit geht ihr Hilfeauftrag oft mit einem Kontrollauftrag einhergeht (bspw. Becker-Lenz 2005; Scherr 2015; Urban 2004), z.B. wenn sozialpädagogische Familienhilfe als Massnahme im Kontext einer Kindeswohlgefährdung angeordnet ist. In solchen Fällen kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Klientinnen und Klienten einen Hilfe-bedarf sehen oder mit den Bedingungen des Hilfesettings einverstanden sind. Zu-dem ist im Ausgangspunkt der Fallarbeit nicht klar, was das fallspezifische Problem der Lebensführung ausmacht und welcher «Hilfe» es bedarf. Vielmehr kann die Konstitution eines Falles als ein sozialer „Konstruktions- und Transformationsprozess“ (Gildemeister/Robert 1997) gefasst werden, der in der Regel über Praktiken der Interaktion entsteht. Erst die Interaktion selbst "und ihre Deutung transformiert ein berichtetes Ereignis, die Lebenslage einer sozialen Gruppe oder die komplexe Lebens-geschichte eines Individuums in einem für die Soziale Arbeit relevanten und handhabbaren Fall" (Bommes/Scherr 2012: 262). Dabei wird die interaktive Produktion eines Falles, nicht nur von professionellen, sondern auch von gesetzlichen, organisationalen wie auch von Logiken der Klientel mitbestimmt, da Soziale Arbeit in einem Spannungsfeld von sozialstattlichem Auftrag bzw. organisational vorgeprägten Hilfeleistungen, den Anliegen der Klientel und professionellem Handlungsverständnis agiert (Bauer/Ahmed/Heyer 2010; Bommes/Scherr 2012; Rüegger 2020).

Der geplante Beitrag aus einer qualitativen Studie zu den Prozessen, Praktiken und Sinnstrukturen der Fallkonstitution in der Sozialen Arbeit (Rüegger 2014, 2017, 2019, 2020) beleuchtet diese interaktiven Produktion des Falles und seiner Problematik im Kindesschutz und ermöglicht einen Einblick in das dynamische Geschehen der Verzahnung von diagnostischem Handeln und der Gestaltung der Arbeitsbeziehung im interaktiven Geschehen der Fallkonstitution. Es wird deutlich, dass diese interaktiven Prozesse in der Herstellung des Falles nicht nur fachlich-inhaltlich heraus-fordernd sind. Sie sind zudem als situatives Beziehungsgeschehen höchst störungs-anfällig. Strukturell ist angelegt, dass sich Soziale Arbeit als gesellschaftlich institutionalisiertes Hilfe- (und Kontroll-)System mit problematischen Formen der Lebensführung beschäftigt. Es geht hier also um eine Ist-Soll-Diskrepanz, die im Moment der Fallkonstitution in den Blick kommt und je nach Arbeitsfeld auch explizit ausgewiesen werden muss, um als unterstützungswürdig anerkannt zu werden oder allenfalls auch eine Kindeswohlgefährdung auszuweisen. Erst im Defizit der Ist-Soll-Differenz liegt der strukturelle Ausgangspunkt für die Soziale Arbeit im Kindesschutz. Empirisch zeigt sich, dass dies mit Prozessen der Herstellung von Hilfsbedürftigkeit wie auch der meist impliziten Verhandlung von Schuld und Moral einher geht, was diese Prozesse der Fallkonstitution im interaktiven Geschehen mitunter so heikel macht. Die Sozialarbeitenden reagieren darauf mit verschiedenen kommunikativen defensiven Praktiken, wie sie im Beitrag am Fallmaterial dargestellt werden (z. B. Normalisierungen bezüglich der Probleme der Lebensführung und/oder Inanspruchnahme Sozialer Arbeit, Vermeiden einer deutlichen Problembenennung bis hin zu Problemellipsen. Es sind Praktiken, welche das achtungsbedrohende Potential (implizit moralisierender) Aussagen zur Lebensführung der Klientel gänzlich zu meiden oder über Normalisierungen zumindest abzuschwächen versuchen. Die Klientel hingegen versucht sich in ihren Problempräsentationen auf eine Weise darstellen, dass sie ihr „Image“ (Goffman 1986) möglichst wahren können. Diese kommunikativen Praktiken der Sozialarbeitenden wie jene der Klientel lassen sich verstehen als Praktiken zur kommunikativen Bearbeitung des Spannungsfeldes zwischen Defizitkonstruktion und Stigmavermeidung in der Herstellung des Falles im Kindeschutz.

Bauer, Petra (2010). Organisatorische Bedingungen der Fallkonstitution in der Sozialen Arbeit. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Pädagogik. 56. Jg. (2). S. 249-266.

Becker-Lenz, Roland (2005). Das Arbeitsbündnis als Fundament professionellen Handelns. Aspekte des Strukturdilemmas von Hilfe und Kontrolle in der Sozialen Arbeit. In: Pfadenhauer, Michaela (Hg.). Professionelles Handeln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 87-104. 

Bommes, Michael/Scherr, Albert (2012). Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe. Weinheim: Beltz Juventa. 

Gildemeister, Regine/Robert, Günther (1997). "Ich geh da von einem bestimmten Fall aus...". Professionalisierung und Fallbezug in der Sozialen Arbeit. In: Jakob, Gisela/Wensierski, Hans-Jürgen (Hg.). Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim: Juventa. S. 23-38. 

Goffman, Erving (1986). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 

Rüegger, Cornelia (2019). Die interaktive Produktion des "Falles" in der Sozialen Arbeit. Ein Blick auf kommunikative Prozesse und Praktiken im Ausgangspunkt (nicht)erwünschter Veränderungsprozesse. In: Graf, Eva-Maria/Scarvaglieri, Claudio/Spranz-Focasy, Thomas (Hg.). Pragmatik der Veränderung. Problem- und lösungsorientierte Kommunikation in helfenden Berufen. Tübingen: Narr Franke Attempo. S. 239-263. 

Rüegger, Cornelia (2020). Wie wird der Fall zum Fall? Prozesse, Praktiken und Sinnstrukturen der Fallkonstitution in der Sozialen Arbeit. Eine qualitative Analyse der Herstellung des Falles und des fallrelevanten Wissens zur Fallproblematik in Gesprächen zwischen Professionellen der Sozialen Arbeit und ihrer Klientel.  Noch unveröffentlichte Dissertation: PH Freiburg.

Rüegger, Cornelia (2014). Wie wird der Fall zum Fall? In: Soziale Passagen. 6. Jg. (2). S. 343-349.

Rüegger, Cornelia (2017). Die interaktive Herstellung des Falles und seiner Problematik in Gesprächen der Sozialen Arbeit. Erste Ergebnisse einer empirischen Studie zu Prozessen der Fallkonstitution im Feld der Kinder- und Jugendhilfe. In: Messmer, Heinz (Hg.). Fallwissen. Wissensgebrauch in Praxiskontexten der Sozialen Arbeit. Opladen: Barbara Budrich. S. 155-200. 

Urban, Ulrike (2004). Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Sozialpädagogische Entscheidungsfindung in der Hilfeplanung. Weinheim: Juventa.

Keywords: Kindesschutz, Fallkonstruktion, Image und Stigma, Interaktion 

Fremdunterbringung – Schutz oder Gefährdung des Kindeswohls? Zur sekundären Vulnerabilität in der Sozialen Arbeit

Marion Pomey, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft ZHAW, Soziale Arbeit

Kinder und Jugendliche, die in ihrem Wohl gefährdet sind und daher nicht länger bei ihren Eltern/Familien aufwachsen können, werden nach vorausgehender Abklärung in (sozialpädagogischen) Pflege-familien oder Heimen fremdplatziert. Ziel dieser biografisch einschneidenden Interventionen ist es ihre Integrität und ihr Wohl zu schützen, sie in belasteten Lebenslagen professionell zu unterstützen und in ihrer je individuellen Entwicklung zu fördern. Denn die Abwehr von Gefährdungen allein reicht nicht aus. Sozialpädagogische Interventionen wie die Fremdunterbringung eines Kindes dienen nicht nur dazu die Gefährdung abzuwehren, sondern auch prospektiv das Kindeswohl zu schützen (vgl. Gabriel/Keller 2019; Pomey 2017). Doch „der Blick auf die Geschichte zeigt, dass die Orientierung am individuellen Kindeswohl sehr viel jünger ist, als es uns aus fachlicher Sicht lieb sein kann“ (Gabriel/Keller 2019). Aus empirischen Studien wissen wir, dass Kinder und Jugendliche in Heimen erneuten Grenzverletzungen und Übergriffen ausgesetzt sein können, dass sie übergangen werden, nicht gehört werden, nicht teilhaben können an sie betreffenden Entscheidungen oder dass sie Gewalt durch Peers oder Mitarbeitende erfahren (Samson 2012, Andresen et al. 2015, Pomey 2017). Diese institutionell bedingte Verletzlichkeit im Sinne der erneuten Gefährdung des Wohls innerhalb sozialpädagogischer Hilfen kann als «sekundäre Vulnerabilität» (Pomey i.E.) verstanden werden. Sie rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob die Soziale Arbeit es schafft, Kindern einen ‘sicheren Ort’ zu bieten, oder ob Kinder erneut verletzlich und auch verletzt werden, die paradoxerweise zu ihrem Schutz fremduntergebracht wurden.

In meinem Beitrag möchte ich sozialpädagogische Interventionen im Sinne der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen dahingehend problematisieren, dass von Seiten der Sozialen Arbeit nicht nur auf die Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen (und ihrer Familien) reagiert wird, wenn eine Inobhutnahme und Fremdplatzierung angestrebt wird, sondern dass die Fremdunterbringung in einem Heim mitunter auch zu Verletzlichkeiten führen kann, die unmittelbar oder lebenslang wirksam wer-den und bleiben können. Solche Verletzlichkeiten können sich an biografischen Wendepunkten oder in bestimmten Lebensthemen aktualisieren (Gabriel/Keller 2021). Insofern lässt sich die kritische Frage stellen, ob Fremdunterbringung zum Schutz oder zur erneuten Verletzlichkeit von Kindern führt. Dieses Spannungsfeld von Schutz und Verletzung soll ausgelotet werden.

Andresen, Sabine/Koch, Claus & Julia König (2015): Vulnerable Kinder – Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS.

Gabriel, Thomas /Keller, Samuel (2019): Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Sekundäranalysen von quantitativen Studien zu den Hilfen zur Erziehung. In: Begemann, Maik-Carsten; Birkelbach, Klaus (Eds): Sekundäranalysen in der Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer.

Gabriel, Thomas/Keller, Samuel & Clara Bombach (2021): Vulnerability and well-being decades after leaving Care. In: Frontiers in Psychology, Vol. 12.

Pomey, Marion (2017): Vulnerabilität und Fremdunterbringung: eine Studie zur Entscheidungspraxis bei Kindeswohlgefährdung. Weinheim: Beltz Juventa. Edition soziale Arbeit.

Pomey, Marion (i.E.): Childhood vulnerability within child care and child protection. From empirical reconstruction to theoretical model. In: Childhood vulnerability Journal.

Keywords: Verletzlichkeit, Kindeswohlgefährdung, Heimunterbringung, Partizipation, Kindheitsforschung

Der Umgang mit Spannungsfeldern und Ambivalenzen im Kindesschutz aus der Perspektive von Eltern und ihren Kindern

Aline Schoch, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW; Gaëlle Aeby, Universität Genf

Der Kindesschutz ist durch plurale Rationalitäten (Bode et al. 2012), verschiedene Akteure und unterschiedliche handlungsleitende Prinzipien (Duerr Berrick 2018) geprägt. Daraus ergeben sich Spannungsfelder und Ambivalenzen, denen die betroffenen Eltern und Kinder ausgesetzt sind und mit welchen sie einen sinnhaften Umgang finden müssen. 

Der Beitrag fokussiert den Umgang von Jugendlichen, Eltern und KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) Mitarbeitenden in zivilrechtlichen Kindesschutzverfahren in der Schweiz und fragt einerseits danach, welchen Ambivalenzen und Spannungsfeldern Eltern und Jugendliche sowie KESB-Mitarbeitende auf organisations-strukturellen Ebene begegnen. Andererseits wird der Umgang von Eltern und ihren Kindern sowie von KESB-Mitarbeitenden mit den angetroffenen Ambiguitäten erkundet. Unter der theoretischen und der normativ-rechtlichen Perspektive der Partizipation von Betroffenen wird die Frage nach deren (relationalen) Agency miteinbezogen.

Der Beitrag präsentiert die qualitativen Resultate des interdisziplinären NFP 76 Forschungsprojektes «Integrität, Autonomie und Partizipation: Wie erleben Kinder und Eltern den Kindesschutz», das sowohl ethnographische (teilnehmende Beobachtungen von Anhörungen bei der KESB) wie auch Interviewdaten analysierte.

Keywords: Zivilrechtlicher Kindesschutz, Eltern, Kinder, Betroffenenperspektive, Spannungsfelder, Partizipation 

Duerr Berrick, Jill (2018). The impossible imperative. Navigating the competing principles of child protection. New York: Oxford University Press.

Bode, Ingo/Marthaler, Thomas/Bastian, Pascal & Mark Schrödter (2012). Rationalitätenvielfalt im Kinderschutz – Eine Einführung. In: Marthaler, Thomas/Bastian, Pascal/Bode, Ingo/Schrödter, Mark (Hg.). Rationalitäten des Kinderschutzes: Kindeswohl und soziale Interventionen aus pluraler Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 1-16.

Schoch, Aline/Aeby, Gaëlle/Müller, Brigitte/Cottier, Michelle/Seglias, Loretta/Biesel, Kay/Sauthier, Gaëlle & Stefan Schnurr (2020). Participation of Children and Parents in the Swiss Child Protection System in the Past and Present: An Interdisciplinary Perspective. Social Sciences, 9(8), 1 19.