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PAPER SESSIONS
Social problems

Überwachen, Profilieren, Intervenieren. Zur Regulierung «sozialer Marginalitäten» in Zeiten der Ungewissheit: Organisationen und rechtliche Arrangements als Produktionsstätten sozialer Marginalitäten (session 1 of 2)

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June 28, 2021 10:45
to
June 28, 2021 12:15
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Organizers

Esteban Piñeiro1; Nathalie Pasche¹; Nora Locher¹

¹Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung ISOS

Speakers

Marina Richter, HES-SO Valais/Wallis, Schule für Soziale Arbeit; Irene Marti, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Anna Hänni, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Jago Wyssling, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Ueli Hostettler, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group

Prof. Dr. Roland Becker-Lenz, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW; Anic Sophie Davatz, M.A., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW; Dr. Lukas Neuhaus, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

Darja Schildknecht, Philosophisch-Historische Fakultät, Departement Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Gender Studies; Nora Naji, Philosophisch-Historische Fakultät, Departement Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Gender Studies

Thiemo Legatis; Dr. Tobias Studer, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

Seit ihren Anfängen befasst sich die Soziologie mit Fragen sozialer Abweichung und Kontrolle, mit anomischen Tendenzen und Strategien einer Herstellung gesellschaftlicher Ordnung. Herausragende Bedeutung kommt hierbei Dispositiven, Taktiken oder Praktiken der Überwachung sozialer Risiken und gesellschaftlicher Probleme zu, mitunter auch der Profilierung gefährlicher oder gefährdeter Personen, auffälliger oder störender Gruppen, um deren Verhalten letztlich regulieren oder steuern zu können. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert präsentiert sich uns ein widersprüchliches Bild zum Umgang mit sozialer Abweichung und Marginalität. Während mit dem Schlüsselkonzept der «Sicherheitsgesellschaft» (Legnaro 1997) die öffentliche Ordnungs- und Sicherheitsproduktion sich nicht mehr primär auf als anstössig oder sozial auffällig wahrgenommenes Verhalten zu konzentrieren scheint – sondern auf eine gouvernementale Verwaltung des empirisch Normalen (Foucault 2006; Singelstein/Stolle 2008) –  stellen Analysen zu einer «Kultur der Kontrolle» (Garland 2001) mitunter auch eine punitive Wende fest, die weiterhin auf gefährliche Personen oder Risikopopulationen abzielt. Diese «Politik der Marginalität» (Wacquant 2009) bearbeitet soziale Ausgrenzung weniger um Marginalisierte zu integrieren. Betrieben wird vielmehr ein «selektives Risikomanagement» (Lutz/Ziegler 2005) oder eine «Exklusionsverwaltung» (Bommes/Scherr 2000), um primär einmal die Bevölkerung vor Sicherheitsrisiken oder die Gesellschaft vor Ordnungsstörungen zu schützen. 

Soziologisch lassen sich soziale Marginalitäten als Effekt von Überwachung und Profilierung verstehen, von darauf bezogenen (wohlfahrt-)staatlichen Regulativen, privaten oder zivilgesellschaftlichen Interventionen. Dabei werden sozial marginalisierte Personen oder Gruppen in unterschiedlichen Kontexten problematisiert, sei es im öffentlichen Raum oder Zuhause, bei der Arbeit, in der Schule oder auf Ämtern. Personen und Gruppen, die ins Visier einer staatlichen, zivilgesellschaftlichen oder auch privaten Überwachung geraten, werden als «Aussenseiter» oder «Randständige» problematisiert, als «Randalierer» oder «Illegale» etikettiert. Nebst sogenannten «Drogensüchtigen» und «Alkoholiker*innen» finden sich darunter z. B. auch «Bettler*innen» oder «Obdachlose», weiter auch Personen mit «psychischen Krankheiten» oder «sozialen Verhaltensauffälligkeiten», mit «irregulärem Aufenthaltsstatus» oder jugendliche «Drop-outs». 

Entwicklungen wie die Digitalisierung oder die 2020 ausgebrochene Covid-19-Pandemie eröffnen neue Möglichkeiten der Überwachung, deren Auswirkungen auf soziale Marginalisierte bisher noch wenig bekannt sind.  Im Workshop sollen daher die unterschiedlichen Produktionsstätten gegenwärtiger sozialer Marginalitäten diskutiert werden, wobei die Vielfalt der involvierten Akteure*innen zu berücksichtigen ist. Denn Policing, Profiling oder Tracing und Formen des (präventiven) Regulierens oder Eingreifens finden sich nicht nur bei staatlichen Agenten der Sicherheits- und Ordnungsproduktion. Nebst Justiz und Polizei können auch Einrichtungen der Sozialverwaltung (Sozialhilfe, Arbeits- oder Jugendämter, KESB), der Gesundheitsversorgung (Krankenhäuser, Arztpraxen), Organisationen im Bildungsbereich (Schulen, Kindergärten) wie auch des Service Public (öffentlicher Verkehr, Stadtreinigung) eine zentrale Rolle spielen; Private (Sicherheitsfirmen, IT-Organisationen) und Unternehmen (Shopping Malls) ebenso wie auch Organisationen der Zivilgesellschaft (KITAS, Beratungsstellen, Vereine, NGO’s). Entsprechend vielfältig und fragmentiert tritt das Herstellen und Managen sozialer Marginalitäten in Erscheinung. 

Der Workshop lotet die Vielfalt gegenwärtiger Überwachungs- und Profilierungsformen aus und analysiert diese hinsichtlich einer Herstellung und Regulierung sozialer Marginalität. In dieser Session werden Organisationen und rechtliche Arrangements als Produktionsstätten sozialer Marginalitäten ins Zentrum gerückt. 

Keywords:  Soziale Marginalität, Überwachung, Polizei, Sozialstaat, Soziale Arbeit 

Modi und Intensitäten von Zwang als Charakteristikum «spezieller» Institutionen?

Marina Richter, HES-SO Valais/Wallis, Schule für Soziale Arbeit; Irene Marti, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Anna Hänni, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Jago Wyssling, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group; Ueli Hostettler, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group

Jede Gesellschaft hat im Lauf der Geschichte unterschiedliche Institutionen entwickelt, um ihre Mitglieder zu organisieren und zu integrieren. Dazu gehört etwa die Bildung, die Gesundheitsversorgung sowie die öffentliche Verwaltung. Personen, die über diese allgemeinen Institutionen nicht oder nicht genügend integriert werden können, werden oft in spezialisierten Institutionen untergebracht und damit auch gesellschaftlich marginalisiert. Unterschiedliche Gründe werden aus Sicht der Gesellschaft herangezogen, um Menschen nach gängigen Standards als «nicht integrierbar» zu definieren. Derzeit gehören dazu bspw. Gründe, welche rechtlicher Natur sind (Straftäter und Straftäterinnen), den Aufenthaltsstatus betreffen (Asylsuchende, Migrantinnen und Migranten), durch psychische Beeinträchtigungen verursacht werden (psychisch Kranke) oder wegen altersbedingtem Unterstützungsbedarf erfolgen (ältere, an Demenz leidende Menschen).

Die Geschichte solcher «spezieller» oder «spezialisierter» Institutionen wurde verschiedentlich erforscht. Dabei ist das Gefängnis, wie etwa Foucault oder Goffman gezeigt haben, eines der bekanntesten Beispiele. Aktuell wird debattiert, ob sich die Merkmale des Gefängnisses auch auf weitere «spezielle», (mehr oder weniger) «totale» Institutionen ausdehnen und deshalb allgemein von einem sogenannten «carceral turn» in der Gesellschaft gesprochen werden kann. Dieser äussert sich etwa im Umgang der Gesellschaft mit Risiko und dem oft mehr oder weniger verborgenen Prozess der Versicherheitlichung («securitization») vieler Lebensbereiche und Institutionen. Damit wird die Frage aufgeworfen, inwiefern sich der Zwang solcher «spezialisierter» Institutionen vom generellen Zwang unterscheidet, der jede Institution in irgendeiner Form kennzeichnet.

In einem SNF-Projekt untersucht ein Team der Prison Research Group (Universität Bern) und der HES-SO Valais/Wallis anhand verschiedener Fallbeispiele woran und inwiefern der oft postulierte «carceral turn» festzumachen ist. Es geht darum, zu dokumentieren, wie diese Institutionen, die als «problematisch» eingeschätzten Mitglieder der Gesellschaft organisieren und dabei, in den Worten von Disney und Schliehe (2019), potenziell selber zu «problematischen» Institutionen werden. 

Dazu soll in den Institutionen Gefängnis, psychiatrische Klinik, Alterszentrum und Asylzentrum untersucht werden, wie die Organisation ihrer jeweiligen Mitglieder erfolgt. Die Organisation oder das Management der Mitglieder der Institution wird dabei in erster Linie als ein Raum-Zeit-Regime verstanden. Dieses soll in den verschiedenen Institutionen dokumentiert und verglichen werden sowie in Bezug gesetzt werden zu Fragen im Zusammenhang mit dem «carceral turn» und der Versicherheitlichung. Im Fokus liegen die Formen von Zwang, die durch die Gleichzeitigkeit von Einschränkung und Fürsorge gekennzeichnet sind, indem besonders die Raum-Zeit-Regime im Umgang mit der jeweiligen Klientel untersucht werden. 

Der Beitrag wird der Frage nachgehen, inwiefern spezifische Modi und Intensitäten von Zwang, operationalisiert in den Raum-Zeit-Regimen, konstitutiv sind für solche spezialisierten Institutionen. Grundlage des Beitrags sind theoretische Überlegungen, wie sie den Ausgangspunkt des Forschungsprojekt darstellen und erste empirische Einsichten aus Gesprächen mit Expert*innen.

Disney, Tom, und Anna K. Schliehe. „Troubling institutions“. Area 51 (2018): 194–99

Keywords: Zwang, Raum-Zeit-Regime, Gefängnis, psychiatrische Klinik, Alterszentrum, Asylzentrum coercion, space-time-regime, prison, psychiatric hospital, nursing home, asylum centre  

Sind Erwachsenenschutzbehörden Produktionsstätten sozialer Marginalität?

Prof. Dr. Roland Becker-Lenz, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW; Anic Sophie Davatz, M.A., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW; Dr. Lukas Neuhaus, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

In unserem Beitrag möchten wir der Frage nachgehen, ob und ggf. inwiefern die Erwachsenenschutzbehörden in der Schweiz als Produktionsstätten sozialer Marginalitäten betrachtet werden können. Im Call für diesen Workshop sind diese Behörden explizit als Akteure bzw. Produktionsstätten genannt. Im Hinblick auf die Funktionen der Produktion sozialer Marginalität lässt sich feststellen, dass die gesetzliche Programmierung des Erwachsenenschutzes von der Schutzbedürftigkeit bzw. von einem "Schwächezustand" (Art. 390 ZGB) ausgeht, von dem einzelne Individuen betroffen sein können. Auch wenn der Schutz von Einzelnen im Fokus steht, ist nicht auszuschliessen, dass in der Beurteilung und Bearbeitung von Hilfsbedürftigkeit auch der "Schutz der Bevölkerung vor Sicherheitsrisiken" und der "Schutz der Gesellschaft vor Ordnungsstörungen" eine Rolle spielt. Im genannten Art. 390 ZGB ist von der "Belastung" und vom "Schutz von Angehörigen und Dritten" die Rede, die bei der Errichtung von Massnahmen zur Behebung des Schwächezustandes von Betroffenen zu berücksichtigen sind.

Zur empirischen Klärung der eingangs erwähnten Frage ziehen wir Datenmaterial und Analyseergebnisse eines laufenden Forschungsprojektes zu Praktiken der Erhaltung und Förderung von Selbstbestimmung im Erwachsenenschutz heran. Das Projekt wird im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Nationalen Forschungsprogramms 76, "Fürsorge und Zwang" durchgeführt. Das Datenmaterial des Projektes besteht im Kern aus Fallakten von Behörden des Erwachsenenschutzes aus drei Kantonen der Deutschschweiz und drei Zeitperioden (1960er Jahre, 1980er Jahre und heutige Zeit). Im Datenmaterial dieses Projektes ist in einzelnen Fällen festzustellen, dass Personen sich an diese Behörden wenden, weil sie gewisse Ordnungsvorstellungen tangiert sehen, dies kann sich beispielsweise auf die Hausordnung in einem Mietshaus beziehen, auf eine moralische Lebensführung oder auf die ordentliche Abwicklung von Geschäften. Es ist auch festzustellen, dass Personen um ihre eigene Sicherheit fürchten. In solchen Fällen machen Personen aus der Bevölkerung mittels sogenannter Gefährdungsmeldung die Behörden auf andere aufmerksam, die diese Ordnungsvorstellungen tangieren oder der Grund für die Sicherheitsbedenken sind. Wir möchten anhand von exemplarisch ausgewählten Fällen der Frage nachgehen, wie die Behörden auf diese Meldungen reagieren und ob die Fallbearbeitung als Produktion von Marginalität gedeutet werden kann. Wir vergleichen dabei die Fallbearbeitung der heutigen Zeit mit Fällen von Vormundschaftsbehörden, den Vorgängern der heutigen Erwachsenenschutzbehörden, in den 1960er und 1980er Jahren. 

Keywords: Erwachsenenschutz, Soziale Kontrolle, Devianz, Selbstbestimmung 

Minority Report - Die biopolitischen Dimensionen des Schweizer Antiterror-Regimes

Darja Schildknecht, Philosophisch-Historische Fakultät, Departement Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Gender Studies; Nora Naji, Philosophisch-Historische Fakultät, Departement Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Gender Studies

Das Konzept Biopolitik ermöglicht die Analyse von Machtgefügen, deren Manifestierung in Körperpolitik und wie diese zu Privilegien und Marginalisierungen führen können. Das internationale Antiterror-Regime verfügt hierbei über eine ausgeprägte Biopolitik: Biopolitische Merkmale bestimmen oftmals wer als Gefährder*in 1 (Fedlex 2021) assoziiert und schliesslich identifiziert wird. Die Vergabe von Privilegien in der Bekämpfung von Terrorismus drückt sich folglich massgeblich in der Marginalisierung der Muslimischen Bevölkerungsgruppe innerhalb einer Gesellschaft aus.

In den letzten Jahren durchlief das Antiterror-Regime einen Wandel: Die rein militärische Terrorbekämpfung wurde durch präventive Massnahmen ergänzt, um die strukturellen Ursachen von extremistischer Gewalt zu adressieren. Durch den neuen Fokus auf Prävention sind viele neue Akteure auf der Bildfläche erschienen, die traditionell nicht im Sicherheitsbereich tätig sind. Soziale Institutionen wie zum Beispiel Schulen, psychiatrische Zentren und städtische Sozialdienste, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Muslimische Vereine sind plötzlich mit eingebunden, nicht nur bei der Prävention durch Aufklärung, sondern auch bei der Identifikation und Früherkennung sogenannter Gefährder*innen. Diese Ausweitung des Sicherheitsapparates auf zivilgesellschaftlicher Ebene und vor allem auch im Gesundheits- und Sozialwesen kann sich zu einer gefährlichen Produktionsstätte von sozialen und politischen Marginalitäten entwickeln. Obwohl das Antiterror-Regime vermeintlich alle Formen extremistischer Gewalt angeht, sind die präventiven Massnahmen überwiegend an Muslimische und nicht-weisse Gemeinschaften gerichtet. Die potentielle Gefahr, die mit dem “Anderen”, dem nicht-weissen Körper, assoziiert wird, steht im Zentrum des Bedrohungsmanagements von Gefährder*innen. Durch die Inklusion des Sozial- und Gesundheitswesens in die Terrorbekämpfung wird unmittelbar klar, dass biopolitische Machtprozesse im Zentrum des präventiven Ansatzes stehen.

Dieser Artikel untersucht am Beispiel des geplanten Bundesgesetzes über die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus in der Schweiz (PMT) (Fedpol 2021) das Konzept des Gefährders bzw. der Gefährderin, damit die Idee des Pre-Crime Space und dessen Auswirkungen auf die Muslimische Gemeinschaft (Heath-Kelly 2017). Das Bundesgesetz beabsichtigt die präventiv-polizeilichen Kompetenzen des Staates auszubauen und Gefährder*innen an der Ausreise in Konfliktgebiete zu hindern, den Kontakt zum kriminellen Umfeld zu trennen sowie ihren Bewegungsradius einzuschränken. Dies soll vorwiegend durch verwaltungspolizeiliche Massnahmen, wie beispielsweise Meldepflicht, Dokumentensperre, Ausreiseverbot, Kontaktverbot oder Hausarrest, funktionieren. Dabei erschliessen vor allem die verwaltungspolizeiliche Massnahmen den Pre-Crime Space. Die biopolitische Wahrnehmung des Pre-Crime Space begründet “verletzliche” Körper als sogenannte Gefährder*innen. Während die Designation eines “verletzlichen” Körpers abhängig ist von der Entwicklung extremistischer Gedanken und plötzlich jeder Status unsicher wird, sind bereits marginalisierte Körper besonders betroffen von dem neuen Bundesgesetz (Heath-Kelly 2017). Die staatliche Regulierung und infolgedessen Verletzung der Grund- und Menschenrechte (OHCHR 2020) marginalisierter und “verletzlicher” Körper in Namen der Sicherheit, mobilisiert Konzepte wie Agamben’s bare life oder Mbembe’s necropolitics. Zudem wirft dieser Artikel Licht auf das gesamtheitliche Bedrohungsmanagement (Fedpol 2021) in der Schweiz und die Ausweitung des Sicherheitsapparates auf das Sozial- und Gesundheitswesen. Die präventiven Massnahmen, die einen gemeinschaftsorientierten und partizipativen Eindruck erwecken, kanalisieren lediglich die polizeilichen Aufgaben in neuen Netzwerken von Akteuren und erweitern so die Reichweite des Strafrechtssystems (Rizvi and Thompson 2020). Der whole-of-society-Ansatz 2 , der dem Konzept der Prävention zu Grunde liegt, verschleiert darüber hinaus die Hintergründe des Diskurses rund um “Kooperation” und die biopolitische Implikation des Staates.

Keywords: Biopolitik, Terrorismus, gewalttätiger Extremismus, Prävention, Pre-Crime, Gefährder*in, Marginalisierung 

Zur widersprüchlichen Marginalisierung im Kontext der Arbeitsintegration

Thiemo Legatis; Dr. Tobias Studer, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW 

Im Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Veränderungen der vergangenen rund 40 Jahre hat sich der Schweizer Sozialstaat verstärkt in Richtung Workfare und Aktivierung entwickelt (Wyss, 2007). Ausdruck hiervon sind die Revisionen von Sozialhilfe und Sozialversicherungen, welche insbesondere auch die konkreten Möglichkeiten der Kontrolle und der Überwachung der involvierten Personen verstärkt haben (zur Kritik am nationalen Überwachungsgesetz siehe Widmer et al., 2018). In der Tat haben sich entsprechend die Überwachungs- und Profilierungsformen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen vervielfältigt, nicht zuletzt betreffend der Teilnahme am Arbeitsmarkt. Die Soziale Arbeit war und ist massgeblich beteiligt an der Entwicklung und Etablierung von Angeboten zur sogenannten Arbeitsintegration. In diesen Praxisfeldern werden Menschen durch die Etikettierung von Beschäftigungsfähigkeit eingestuft. Menschen, denen eine fehlende Beschäftigungs- oder Arbeitsmarktfähigkeit unterstellt wird, werden im Kontext der Arbeitsgesellschaft in einen sogenannten zweiten Arbeitsmarkt abgedrängt – oder marginalisiert. Es zeigen sich im Bereich der Arbeitsintegration unterschiedliche Widersprüchlichkeiten hinsichtlich dieser Form der Marginalisierung: 

1) Bei der Arbeitsintegration handelt es sich an sich um eine Arbeitsmarktintegration, also um die spezifische Eingliederung der Menschen in die bestehenden Arbeitsverhältnisse. Damit haben die Massnahmen gegenüber den betroffenen Menschen des Öfteren eher einen disziplinierenden anstatt einen qualifizierenden Charakter. Nicht die individuellen Fertigkeiten stehen im Vordergrund, sondern in erster Linie die Wiedereingliederung des Menschen als Arbeitskraft in den Arbeitsmarkt. Wird der Mensch als nicht-arbeitsmarktfähig deklariert, so wird zumindest eine Beschäftigung angestrebt. Diese Angebote bringen des Öfteren subventionierte Stellen mit sich, die im arbeitsrechtlichen Sinne nicht als Lohnarbeit verstanden werden können. 

2) Diese Entwicklung ist insgesamt stark durch die neoliberale Ideologie geprägt und hat Auswirkungen auf der individuellen Seite. Es stellt sich die zentrale Frage, weshalb die Massnahmen seitens der betroffenen Personen als gerechtfertigt wahrgenommen werden. Die Durchsetzung disziplinierender Massnahmen geht mit der Erhöhung administrativer Kontrolle einher und hier reiht sich Soziale Arbeit in Theorie und Praxis in grossen Teilen widerstandslos in die neoliberale Fremdbestimmung ein. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie sich selber nicht mehr als Ausdruck der gesellschaftlichen Verteilungskämpfe begreift und die Sozialarbeitenden dadurch weitgehend politischer Ohnmacht ausliefert (vgl. Graf & Vogel, 2010). 

Im geplanten Beitrag soll das kritische Potential von Sozialarbeit im Sinne einer demokratisierenden Stärkung der individuellen Fähigkeiten der betroffenen Menschen herausgestrichen und das Praxisfeld Arbeitsintegration als Ort der kritischen Reflexion gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bestimmt werden. Die widersprüchliche Marginalisierung der Arbeitsintegration wird damit in einen grösseren Kontext der Arbeitsgesellschaft und deren Kontroll- und Überwachungsmechanismen eingebettet. Hieraus lassen sich Folgerungen für die theoretische Relevanz und die kritische Praxis der Sozialen Arbeit ableiten. 

Literatur:

Graf, M. A., & Vogel, C. (2010). Sozialarbeit als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse. Ein Beitrag zur Stärkung des Unterscheidungsvermögens. In P. Benz Bartoletta, M. Meier Kressig, A. M. Riedi, & M. Zwilling (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Schweiz. Einblicke in Disziplin, Profession und Hochschule (S. 26–39). Haupt.

Widmer, S., Legatis, T., & Studer, T. (2018). Soziale Arbeit gegen das Überwachungsgesetz. Zur Legitimation sozialer Kontrolle – Eine Kritik. Sozial Aktuell, Nr. 11, November 2018, 36–38.

Wyss, K. (2007). Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus. Edition 8.